Nicole kauerte neben dem Schlafzimmerschrank. Ihr rechter Arm schmerzte. Sie spürte Blut warm aus ihrer Nase tropfen. Ihre augenblicklichen Empfindungen – wie ausgeschaltet, die Zeit stand still. Das Blut perlte auf ihren Pulli. Sie fuhr sich mit dem Arm zur Nase. Ein dunkler, roter Fleck machte sich auf grüner Wolle breit.

Stille im Raum, Nicole fühlte ihr Herz pochen – mit einer Regelmäßigkeit bis in die Ohren. Langsam normalisierte sich ihr Herzschlag. Sie erhob sich, um ins Bad zu gehen. Auf dem Weg zum Waschbecken durchzuckte sie Angst, als sie die Eingangstür zuschlagen hörte. Kam er zurück?

     Sie hielt inne. Es schien lediglich der Wind, der ums Haus pfiff, zu sein, der gnädig die offene Türe schloss, hinter der Holger vor geraumer Weile verschwand.

     Nicole kam bei diesen tätlichen Angriffen ihres Mannes jeder Zeitsinn abhanden. Sie wusste nicht, wie lange er unmittelbar vorher auf sie eingeschlagen hatte, wie oft er nach ihr trat. Aber sie wusste, diesmal war sie gottlob seinen Vergewaltigungen entgangen. Lieber abermals eine gebrochene Nase und den Arm verletzt, als dass er ihr mit seinem Glied bis in die Seele fuhr.

     Sie reinigte ihr Gesicht, sah prüfend in den Spiegel. Die Nase fühlte sich heil an, entging damit dem Gebrochensein.

     Die Blutstropfen versiegten. Ihr Gesicht zeigte minimale Schwellung, außer einem schmerzenden Arm fühlte sie sich okay...

...Depression schob sich über ihr Gemüt. Es tat gut, den schmerzenden Arm zu spüren. Herrlich, wenn die körperliche Qual der seelischen Paroli bot. So war das Leben besser zu ertragen.

Das Leben – wo lag sein Wert? Nur bitter und erniedrigend zog es an ihr vorbei. Immer wenn sie hoffte, einen Menschen an ihrer Seite zu haben, der ihr die Chance auf Zukunft gab, zerplatzte diese Erwartung nach kürzester Zeit.

Warum pachtete sie die Verliererseite für sich allein? Wie sollte sie je dieser Spirale der Gewalt entfliehen?

     Mit einem Seufzen glitt Nicole auf die Küchenbank nieder. Stille umgab sie, die Schmerzen am Unterarm wurden ärger. Sie nahm den eingetrockneten Blutfleck auf dem Pulli wahr. Wie ein Ungeheuer hatte er es sich bequem in der Wolle gemacht. So bequem, wie es sich alle ihr wichtigen Personen in ihrem Inneren machten.

     Anwachsend fühlte sie, von den Menschen, die sie liebte,  innerlich ausgehöhlt zu werden.

     Seit sie denken konnte, wurde sie benutzt und weggeworfen...

     ...Ihre Erinnerungen voll gesogen mit Negativem.

     Nicole sah sich als kleines Mädchen inmitten ihrer drei Brüder und ihrer Eltern...

 


 


Geräuschvoll fuhren vier Löffel in die Schüssel. Jeder einzelne wurde daraufhin zu dem dazugehörigen Mund geführt. Vier ausgemergelte Gestalten leerten das Gefäß binnen weniger Minuten. Das Tagwerk machte hungrig und das Abendbrot war sehnsüchtig erwartet worden. Schweigend hatten die Magd und die drei Knechte gegessen. Danach verließen die Männer den Platz, während die Magd das Geschirr vom Tisch räumte.

     „Anna, kannst du bitte gleich alles abwaschen, ich bin heute so erschöpft.“

     Mit einem Kopfnicken machte sich Anna an die Arbeit, während sich die schwangere Bäuerin auf die Ofenbank niederließ. Sie nahm ihre Handarbeit auf und setzte Stich für Stich in die Decke.

     „Morgen kommt eine Tagelöhnerin zu uns. Wir brauchen sie  mindestens bis zum Winter. Wenn sie arbeitsam ist, kann sie auch als zweite Magd bleiben. Richte ihr bitte hernach die Bettstatt neben dir“, fuhr die Bäuerin fort.

     „Ja, ist gut, dass Hilfe kommt. Wird mir alles schon ein bisschen zuviel“, stellte Anna fest.

     Die Bäuerin merkte ihr die Erschöpfung an: „Ich verstehe dich gut, darum habe ich auch den Bauern dazu gedrängt, eine Tagelöhnerin einzustellen, denn bei mir ist es bald soweit und ich kann den Haushalt nicht mehr allein machen. Somit wirst du mir in der Küche helfen und die Neue soll aufs Feld und in den Stall.“

     Annas Miene erhellte sich. Sie kam zu der Bäuerin und kniete vor ihr nieder.

     „Ihr seid bisher meine beste Brotgeberin. Noch nie habe ich so eine Stelle gehabt.“

     „Ist schon gut, du bist auch ein sehr tüchtiges Mädchen und ein treues dazu. Keine Magd zuvor blieb länger als ein Jahr bei uns. Die meisten suchten sich bald einen neuen Hof, wegen –  nun du weißt, warum“, die Bäuerin brach den Satz ab und sah zu Boden.

     „Aber Ihr könnt nichts dafür, dass er so ist“, meinte Anna, während sie sich erhob.

     „Nur gut, dass du noch nie schwanger geworden bist von ihm, nicht auszudenken, wie es dann mit dir weitergegangen wäre“, seufzte die Bäuerin und hielt sich ihren eigenen Bauch.

     „Dann hätte er mich davon gejagt, wie andere zuvor.“

     „Ja, so weit wäre es wohl gekommen.“

     Es trat Schweigen ein in der rußverschwärzten Küche.

     Anna schöpfte Wasser aus dem Ofenschiff in einen großen Eimer, der zum Geschirrspülen gedacht war. Danach ging sie ins Freie zum Brunnen, um in einen anderen Eimer Wasser zu schöpfen. Das Ofenschiff musste gleich aufgefüllt werden, damit jederzeit warmes Wasser in der Küche verfügbar war.

     Anna sah den Bauern im Hof stehen. Sie machte einen Bogen um ihn, wollte nicht seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wer weiß, ob es ihn ansonsten  nicht wieder nach ihr gelüstete. 

     Davon bekam Lorenz nichts mit. Selbstgefällig stand er mitten im Hof, sein Anwesen betrachtend.

     Ja, er hatte es weit gebracht und aus dem alten Bauernhof ein Schmuckstück gemacht.

     Noch vor fünf Jahren sah es hier erbärmlich aus. Sein Vater führte den Bauernhof mit seiner Mutter und einem alten Knecht. Er selbst schätzte es nicht erheblich, mit anzupacken, denn er war noch nicht Jungbauer, sondern alleinig Sohn seiner Eltern.

     Von der Mutter abgöttisch geliebt, vom Vater als einziger Spross emporgehoben, bestand seine ausschließliche Pflicht darin, eine für ihn ausgesuchte Frau zu heiraten, die zwar keine Schönheit, dafür aber Geld besaß.

     Durch einen Gelegenheitsarbeiter erfuhren seine Eltern von einer bemittelten Handwerkertochter, die in einem anderen Teil des Landes lebte. Sie befahlen Lorenz, um dieses Mädchen zu werben, da sie sich eine anständige Mitgift erhofften.

     Lorenz, von guter Gestalt und gespieltem Anstand, fiel es nicht schwer, Johannas Herz und die Sympathie ihrer Eltern durch List zu gewinnen. So perfektionierte sich der Handel bald von selbst und er hielt um ihre Hand an.

     Schnell verlobt, bald verheiratet, bekam Lorenz für sein Tun die Anerkennung seiner Eltern, jedoch nicht den erhofften Hof. Er fand sich damit ab und tat wie immer.    

     Ihm war von Anfang an klar, dass er aufgrund seiner Heirat mit Johanna keineswegs seinen Gefallen an anderen Frauen zurückstellen würde. Gleichzeitig wähnte sich Johanna, die sich am Ziel ihrer Wünsche glaubte, blind für seine Amouren.

     Sie wollte es nicht sehen, sie liebte diesen Mann, war stolz, seine Frau zu sein. Egal, was die Leute hinter vorgehaltener Hand sprachen. Ob er der Stallmagd eines Nachbarhofes nachstellte oder einer Tagelöhnerin, sie war überzeugt, dass er schon bald ein verantwortungsvoller Vater werden würde. Aus Liebe ertrug sie geduldig die Seitenhiebe ihrer Schwiegermutter, der sie nichts recht machen konnte. Jung und voller Tatendrang fühlte sie sich immun gegen alle Widrigkeiten. Alles würde gut werden mit dem ersten Kind, das sie unter dem Herzen trug.

     Bereits nach Neujahr nahten gravierende Veränderungen.    Eine schwere Grippewelle machte sich das Land untertan und forderte ihre Opfer. Auch ihre Schwiegereltern raffte sie dahin. Was sie allerdings wirklich schmerzte, ihr wenige Wochen alter Sohn verlor sein kaum begonnenes Leben.

     Lorenz stand anfänglich unter Schock, bis er realisierte, dass  er endlich Bauer auf dem elterlichen Hof war. Jetzt galt es, das Anwesen zu sanieren und dafür kam Johannas Geld gerade richtig...

     ...Mit einer schönen Summe Geldes fing Lorenz bereits im Frühjahr mit der Renovierung des Anwesens an. Noch nie arbeitete er so viel wie in dieser Zeit, es tat ihm gut, sein Reich entstehen zu sehen.

     Schon ein Jahr danach stand der Hof in seiner vollen Pracht auf der Anhöhe. Die brachliegenden Felder trugen Ernte und die neuen Stallungen füllten sich mit Vieh.

     Drei junge Knechte und zwei Dirnen hatte Lorenz eingestellt. Dem alten Knecht nahm er ohne Skrupel die Arbeit, jagte ihn vom Hof. Er brauchte junge, kräftige Leute zur Arbeit. Den beiden Mädchen hatte er aber noch eine andere Arbeit zugedacht, sie mussten ihm zu Willen sein, während Johanna wieder schwanger wurde.

     Johanna entpuppte sich nicht gerade als Segen für eine große Kinderschar, denn unter der Last der schweren Arbeit verlor sie ihr zweites Kind, ehe dieses geboren wurde.

     Lorenz zeigte Johanna zunehmend seinen Unmut über ihre Unfähigkeit, endlich für den Stammhalter zu sorgen. Noch ungelegener kam ihm, dass die eine Dirne bereits von ihm schwanger war und keine Anstalten machte, das Kind zu verlieren. Also verwies er sie des Hofes und Anna blieb als einzige, fixe Magd.  

     Ende des Jahres musste Lorenz einen weiteren Schlag verkraften. Alle drei Knechte verließen ihn nach den Weihnachtsfeiertagen, um im neuen Jahr einen anderen Dienstgeber zu suchen...

     ...Danach folgte ein Kommen und Gehen von Knechten, aber sie entsprachen nicht seinem Geschmack oder verließen ihn von sich aus.

     Letzten Endes blieben ihm drei zum Teil abgenutzt wirkende Knechte. Mit dem Vorteil, dass sie keine Ambitionen nach Weibern hatten und sich gehorsam der Arbeit widmeten...

   ...Es war eben nicht leicht, ideale Knechte zu finden.

     Genauso verhielt es sich mit dem weiblichen Personal. Entweder sie zierten sich bei seinen Annäherungen oder waren schon zu alt für ihn und anständige Arbeit. Anderenfalls  wurden sie schwanger und unrentabel für den Hof.

     Nur Anna bewährte sich über all die Zeit hinaus. Sie war ihm zu Willen, wenn er sie brauchte und arbeitete ordentlich. Sie besaß keine Schönheit, sondern wirkte dürr und vertrocknet, obwohl sie erst knappe dreiundzwanzig Jahre zählte. Er fragte sich oft, woher sie bloß die Kraft zur Arbeit nahm...

  ...Lorenz stopfte seine Pfeife, setzte sich vor das Wirtschaftsgebäude und blickte ins Dorf hinab. Er fühlte sich wohl. In den nächsten Tagen erwartete er die Tagelöhner und eine Tagelöhnerin, die als Dirne zumindest so lange bleiben sollte, bis Johanna nach der Geburt wieder ihren Haushalt selbst machen konnte. Er dachte an seinen Stammhalter, der bald geboren werden sollte und an die neue Dirne. Hoffentlich war sie hübsch.     

      


 


 ...Nicole stieg an der Endstelle aus und schlenderte am Wehrturm vorbei zur Volkshochschule.

     Gleich einem Taubenschlag schwirrten Leute aus und ein. Nicole bahnte sich einen Weg durch Diskutierende. Versuchte sich zurechtzufinden. Da, eine Anzeigetafel.

 

20.00 Uhr Saal 7 Dr. Eric Boulafson –

Verhaltensmuster  und Schicksalsbeeinflussung.

 

     Nicole sah auf die Uhr. Gerade kurz nach 17.00 Uhr. In drei Stunden fing der Vortrag erst an. Drei Stunden endlose Unvergänglichkeit, wenn man nicht wusste, wofür nutzen.

     Nicole überlegte. Sollte sie bummeln gehen? Nein, zu riskant. Sie könnte überall Holger in die Hände laufen. Also hier bleiben.

     Nicole fing an, Prospekte über alle möglichen Veranstaltungen hier in der Volkshochschule zu lesen. Kaum zu glauben, so eine Fülle an Angeboten. Für jedes Talent der richtige Kurs. Für jedes Problem der geeignete Vortrag.

     Sie kam ins Grübeln. Bei der Menge an Angeboten konnte es durchaus möglich sein, dass dieser Vortrag heute Abend nicht mehr als ein Pausenfüller war. Ein seichter Vortrag, wo man im Nachhinein genauso klug ist wie vorher. Ein Tun, um Saal 7 nicht leer stehen zu lassen. Gab sicher genug Betriebskosten für dieses toll renovierte Haus.

     Da muss man aufpassen, dass andauernd etwas los ist und das Geld stimmt...

       ...Sie verspürte Durst, überwand ihre Angst vor Leuten und betrat das Cafe im Erdgeschoss.

     Suchend fand sie einen Tisch für zwei Personen. Er war klein genug, um Ruhe vor ungebetenen Tischnachbarn zu bieten. Während sie noch nachdachte, warum es eigentlich keine Tischchen für nur eine Person gab, sondern in kleinster Ausgabe immer für zwei, kam der Kellner und sie bestellte  Kaffee mit einem Glas Wasser.

     Ihr Blick schweifte durch das Lokal und blieb an zwei Männern haften, die an der Theke standen. Sie kamen ihr bekannt vor.

     Wo bloß hatte sie die beiden schon gesehen? Ach ja, gestern am Wehrturm...

...In dem Jüngeren der beiden erkannte sie die Person, die all die Prospekte unterm Arm getragen hatte...

     ...Der andere Mann – groß, schlank und wie der Schauspieler aus Superman wirkend.

     Nicole musterte ihn gerade, vielleicht viel zu auffällig, aber er stach eben ab von der Masse, da blickte er ihr in die Augen. Sofort sah sie weg. Sicher hatte sie sich nur eingebildet, dass er sie ansah, vielleicht sah er nur durch sie hindurch. Es lag doch eine gewisse Distanz zwischen ihrem Tischchen für zwei und dem Tresen. 

     Aber ihre Nervosität spielte ihr einen Streich, wehrlos stieß sie aus Verlegenheit das Glas Wasser um.

     Das Klirren hörte der Kellner, der am Nebentisch gerade bediente.

     „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er sofort aufmerksam, während er sich schon daran machte, mit einem Lappen das Wasser wegzuwischen.

     „Danke, sehr nett“, mehr brachte Nicole nicht hervor.

     „Kein Problem, ich bringe ein Neues.“

     Mit einem geschäftlichen Lächeln verschwand der Kellner.

     Sie blickte in die Runde. Am Nebentisch schenkte man ihr keine Beachtung, war im Gespräch vertieft, ebenso am nächstgelegenen Tisch. Zwei Frauen am vorderen Ende der Theke beachteten sie genauso wenig.

     Ein Reflex durchzuckte merklich ihren Körper. Als hätte sie es gewusst, noch bevor ihr Blick Superman traf, ihm war ihr Missgeschick nicht verborgen geblieben. Er sah unverhohlen zu ihr.

     Mein Gott, wie peinlich. Nicoles Hände zitterten, sie vermied, nach ihrer Kaffeetasse zu greifen, damit er es nicht bemerkte...

     ...Wie lange hatte sie nicht mehr den Blick gehoben? Die Uhr zeigte ihr, es vergingen dazwischen kaum 10 Minuten. Sie  spähte Richtung Theke. Superman stand nicht mehr dort. 

 


        

Fünf Monate waren bereits vergangen, seit Johanna eine Tochter gebar. Das Baby entwickelte sich gut und lag soeben in ihren Armen. Johanna schritt neben Lorenz zur Kirche. Es wurde Zeit, das kleine Ding in den christlichen Glauben aufzunehmen und taufen zu lassen.

     Zu diesem Anlasse hatten sich heute Früh auch Johannas Eltern eingefunden und samt dem Gesinde betraten sie das Gotteshaus.

     Lorenz nahm den Hut vom Kopf und fügte sich in die Zeremonie. Die Worte der Predigt glitten an ihm ab. Während seine Tochter den Namen Isabell erhielt, dachte er an diverse Arbeiten, die in den nächsten Tagen am Programm standen und an seine Vereinigungen mit Maria.

     War es schon schön, Anna jederzeit zu nehmen, gestaltete es sich mit Maria zu einer einzigen Ekstase.

     Maria war ein dralles Mädchen von gerade achtzehn Jahren. Sie war unterwürfig und redete nie zurück, egal, zu welcher Tages- oder Nachtzeit er sie besteigen wollte. Sie nahm ihn gerne in sich auf und war bis jetzt noch nicht schwanger. Lorenz hoffte, es möge lange so bleiben, denn er wollte sie weiterhin benützen. Es tat gut, ihren jungen Körper zu spüren und er merkte zu seinem Erstaunen keine Eifersucht Annas.

     Die beiden Mädchen teilten sich eine Kammer und es konnte Anna nicht verborgen bleiben, dass er des Öfteren nächtens nach einem Wirtshausbesuch, oder wenn er nicht schlafen konnte, Maria beiwohnte.

     Er blieb fest bei seiner Überzeugung, dass Anna ihn liebte, denn warum sonst blieb sie schon so lange hier am Hof und war ihm auch in jeder Stellung zu Willen. Wobei sich sein derzeitiges Interesse an ihrem dürren Körper in Grenzen hielt.

     Bei Maria konnte er sich nicht so sicher sein, was sie für ihn empfand, denn sie war ein kleines, geiles Luder, welches von ihm lernte und alles brav umsetzte...

         ...Lorenz wurde heiß bei seinen Gedankengängen und sein bestes Stück lag hart und bereit in seiner Hose. Er musste etwas anderes denken. Peinlich, wenn diesen Zustand jemand bemerkte. Noch dazu im heiligen Hause. Also galt es, die Gedanken auf praktischere Dinge zu lenken.

     Vielleicht, Johanna zu schwängern. Es wurde Zeit, dass sie einen Stammhalter gebar. Er blickte zu seiner Frau. Sie erschien ihm dicklich und einfältig. Wäre sie Dirne, er hätte sie nur zur Not bestiegen, so war sie leider sein Kapital und deshalb sein rechtmäßiges Weib.

     Schließlich war Isabell getauft, die ganze Gesellschaft verließ die Kirche. In Zweierreihen ging es heim zum Hof, um sich über die vorbereiteten Speisen herzumachen.

     Lorenz verlangsamte seinen Schritt, um seine Pfeife anzuzünden. Er ließ seine Frau mit ihren Eltern und Isabell auf dem Arm vorbei, gefolgt von den Knechten und Anna und Maria. Er ging ein Stück hinter ihnen und betrachtete ihre Kehrseite. Ja, jede von den beiden wirkte auf ihre Weise anziehend  und beide gehörten ihm.

     Dass diese Vermutung egoistisch überzogen war, konnte sich Lorenz nicht vorstellen. Doch die beiden Mädchen empfanden in Wirklichkeit ganz anders für ihn, als er glaubte...

 


 

 


Nicoles Pulsschlag hatte sich normalisiert. Letztendlich konnte sie wieder ihre Kaffeetasse halten, ohne zu zittern.

     Jetzt schlug ihre Stimmung ins Gegenteil, sie wurde ärgerlich.

     Was gab dem Typ das Recht, sie so unverhohlen anzustarren? Superman fehlte jede Spur von Anstand. Er musste doch bemerkt haben, dass sie etwas nervös war. Statt wegzugucken, ergötzte er sich anscheinend an ihrer Aufgebrachtheit...                 

     ...  Sie machte sich auf den Weg zu Saal 7 im ersten Stock. Die Tür stand bereits offen, sie trat ein...

    ... Zwei junge Männer brachten einen Diaprojektor. Der eine platzierte ihn, während der andere über die grüne Schreibtafel eine Leinwand zog. Wirklich praktisch, wie die Räume hier eingerichtet waren. Die Tafel zum Schreiben, die Leinwand zum Schauen und die dicke Schaumgummimatte, die augenblicklich ein anderer Bursche hereinbrachte, zum Demonstrieren. Ihre Neugier stieg.

     Eben kamen noch einige Leute herein. Nicole sah auf die dritte Reihe. Okay, dritte Reihe links außen wollte sie Platz nehmen.

     Die Hereinkommenden besetzten zur Gänze die dritte Reihe und einige von ihnen nahmen dahinter Platz. Ein Pärchen setzte sich nun in Reihe zwei und Nicole sah sich auf einmal in der ersten Reihe Fensterplatz sitzen.

     Jetzt füllten sich Reihe vier und fünf komplett. In Reihe zwei nahmen zwei Damen Platz und neben ihr ein weiteres Paar.

     Sie überlegte, wie viele Leute waren schon im Raum?

     Sie sah zur Tür, durch die gerade noch vier oder fünf Personen marschierten. So genau konnte sie das nicht mehr realisieren, denn umgehend betrat Superman den Raum und schloss die Tür. Er legte einige Utensilien auf den Tisch vorne neben der Leinwand  und blieb vor dieser stehen.

     Sein Blick schweifte über sein Publikum, blieb kurz mit einem amüsierten Lächeln an Nicole hängen.

     „Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüße sie herzlich zu meinem Vortrag.“

     Eric Boulafson durchbrach mit seinen Worten das Durcheinander an Stimmen. Es wurde still im Saal.

 

 


 


 

Mit offenen Augen lag Lorenz im Bett. Isabell schlummerte in ihrer Wiege. Neben ihm schlief Johanna.

     Er konnte es kaum ertragen, sich ein Bett mit ihr zu teilen. Das sollte sich ändern, sobald sein Stammhalter geboren war. Er plante in die kleine Kammer neben dem Schlafzimmer zu ziehen, das ursprünglich als Zimmer für die Kinder gedacht war. Jedoch anfangs reichte es für den Nachwuchs, sich ein Zimmer mit der Mutter zu teilen. Später würde man weiter sehen.

     Lorenz ermaß, nie zu weit in die Zukunft zu denken. Es reichte ihm meist, für die nächsten Wochen zu erwägen.

     Der Gedanke gefiel ihm – ein Bett ohne Johanna. Er hätte somit seine Pflicht getan und erachtete zwei Kinder mit dieser Frau als genug. Hauptsache, sie schenkte ihm nächstens den Stammhalter, dafür würde er sie schätzen und sich bemühen, sie nicht mehr zu schlagen. Oder besser nur noch ab und zu, wenn sie ihn zu sehr herausforderte.

     Mit diesem Vorsatz für seine nahe Zukunft fühlte er sich fürs Erste zufrieden. Gähnend drehte er sich zur Seite, er wollte an seinen Sohn denken, auf den er sich seit langem freute.

     Eine Vorstellung keimte für Sekunden in ihm auf. Wieso sah er andauernd einen Jungen vor sich, was, wenn Isabell eine Schwester bekam?

     Nein, bloß nicht abermals ein Mädchen. Es hatte auf alle Fälle ein Junge zu sein, er sollte Lorenz heißen, so wie er!

     Lorenz nickte fast unmerklich vor sich hin. Beruhigt konnte er jetzt schlafen, alles würde gut werden.

     Er fand allerdings keinen lindernden Schlaf, träumte von Maria, die anwachsend zu einem Problem wurde. Obzwar  hübsch anzusehen und eine brave Arbeitskraft, mit der Beischlaf und alles, was dazugehörte, einfach gut tat, sie musste weg vom Hof.  

     Bis jetzt fehlte ihm einfach die Kraft, sie wegzuschicken, aber er zwang sich, es bald zu tun.

     Sie war eindeutig schwanger und wurde mit jedem Monat unrentabler. Er konnte sich keine Magd leisten, die ihm seinen Bastard in den Hof legte. Maria musste verschwinden, oh Gott, warum gerade sie? Er mochte sie mehr, als er vor sich selbst zugeben wollte.

     Instinktiv umfasste er sein Kissen fester. Im Halbschlaf an Maria denkend, hörte er ein Stöhnen neben sich.

     „Maria“, flüsterte er im Dämmerschlaf, bevor er wahrnahm, dass es kein lustvolles Stöhnen Marias war, sondern seine Frau im Bett aufrecht saß und sich den Bauch hielt.

     „Lorenz, dein Bub will raus“, murmelte sie schwer atmend.

     Lorenz erwachte gänzlich.

     Bei Johanna setzten die Wehen ein. Im Moment gab es anderes zu tun, als an Maria zu denken. Immerhin war sie selbst für ihren Balg verantwortlich, er dagegen für seinen Stammhalter, der im Begriff war, sein Erdendasein anzutreten.   

     Lorenz sprang aus dem Bett, lief im Anziehen aus dem Zimmer.

     „Ist was?“  Anna, durch den Lärm geweckt, stand am Flur.

     „Geh zur Bäuerin, der Bub kommt. Ich hole die Hebamme“, stieß Lorenz hervor.

     Er lief in den Stall, schwang sich auf eines seiner ungesattelten Pferde und ritt ins Dorf.

     Mittlerweile ging am Hof überall das Licht an. Kein Auge blieb mehr geschlossen.

     Schlaftrunken folgte Maria Annas Anweisungen und heizte den Küchenherd an, um Wasser zu wärmen.

     Matthias lag wach in seinem Bett und wehrte sich gegen aufsteigende Magenschmerzen, während Ludwig Holz in die Küche trug. Er ließ sich danach auf der Ofenbank nieder, dem Gestöhne aus dem Schlafzimmer lauschend.

     Albin hatte ein Pferd vor den Wagen gespannt und fuhr zum

Haus der Hebamme, um sie herzufahren.

     Die Hebamme, bereits von Lorenz unterrichtet, schlüpfte schnell in ihre Kleider und stieg zu Albin auf den Kutschbock.   Lorenz  ritt währenddessen wie als Vorhut zum Gehöft zurück.       

     Nach einer kleinen Unendlichkeit trafen Albin und die Hebamme ein.

     In der Nacht wirkte alles Tun viel langsamer als am Tag, nur das Kind hatte es eilig. Bis zum Morgengrauen war Lorenz zum zweiten Male formeller Vater.

     Johanna hatte ihm eine weitere Tochter geboren, eine Tochter mit einem verkrüppelten Bein.


 

 


Nicole versuchte gegen ihre Nervosität anzukämpfen. Deutlich ihren Herzschlag spürend, bemühte sie sich beharrlich, ihre schweißnassen Hände am Kleid zu trocknen.

     Wie durch Nebel verfolgte sie den Diavortrag, ohne das Gesehene zu begreifen.

     Automatisch applaudierte sie mit den Übrigen und hörte Superman aus weiter Ferne über seine Hypnosetechniken referieren.

     Sie fühlte sich unwohl, wollte hier raus, doch sie schaffte es einfach nicht, sich zu erheben, um zur Tür zu gehen.

     Vom Vortrag ohnehin nichts mitbekommend, wollte sie unbemerkt weg von Superman.

     Warum nur fühlte sie sich so unbehaglich in seiner Nähe? Was verbreitete dieser Mann, dessen einziges Vergehen darin bestand, sie mehr als ziemlich zu mustern? Und warum gerade sie?

     Sie hätte gerne seine Gedanken gekannt, warum er sich für sie zu interessieren schien.

     Gewiss, sein Blick schweifte durch die Reihen, er verstand es, jedes Augenpaar anzusprechen, das sich im Saal 7 befand, doch an ihr blieb er eine Nuance länger hängen als an den anderen. Das erzeugte in Nicole Unbehagen.

     Peinlich, allerdings fand dieses Gefühl seinen Höhepunkt, als Superman neben ihr stehen blieb und auf sie hinabsah.

     „Würden Sie mir als Medium zur Verfügung stehen?“, sprach er sie an.

     Nicole fühlte alle Augen auf sich gerichtet. Doktor Boulafson streckte ihr seine Hand entgegen.

     Was sollte sie tun?

     Nicole schüttelte den Kopf. Gleich würde er zu einer anderen gehen, um sie für den praktischen Teil seines Vortrages vorzubereiten.

Sie irrte. Er stand weiterhin neben ihr, seine Hand ihr entgegenhaltend.

     „Aber ja, es wird Ihnen gefallen. Vielleicht ein kleiner Applaus für die Dame.“

     Damit wandte er seinen Blick den anderen zu, die sich auch schon mit Beifall betätigten.

     Ihr Widerstand brach. Es war nun mal ihr Lebensmuster, sich nie lange gegen Einflüsse wehren zu können. Wahrscheinlich merkte das dieser Doktor und fand in ihr ein geeignetes Opfer für seine Hypnosespielchen.

     Ihre verschwitzte Hand lag in seiner angenehm warmen Rechten.  Nicole ließ sich zur Matte führen und legte sich nach seinen Anweisungen darauf...

   ...Leise fing sie zu sprechen an:

„Ich betrete einen Raum... es ist ein altmodisches Schlafzimmer... ich, ich... nehme ein Kissen aus einem Bett... gehe zu einer Wiege... sie ist aus Holz mit einer schön geschwungenen Schnitzerei... ich... ich...“, Nicole bewegte sich unruhig auf der Matte, ihre Stimme versagte.

     Gebannt warteten die Anwesenden auf ihr Erlebtes. Vergeblich, es kamen keine Worte mehr über ihre Lippen. Stumm sah sie sich über die Wiege beugen, das Kissen  senkend. Verschwommen nahm sie ein Baby wahr, ein Baby mit einem verkrüppelten Bein. Das Baby verschwand unter der Fülle des Kissens.

 


 


Das Seelenheil auf Lorenz Hof lag in stiller Agonie. Der Winter war eingekehrt mit seiner trostlos kalten Einstellung. Eine gewaltige Schneedecke breitete sich über das Land und Weihnachten stand vor der Tür.

     Keiner, der hier lebte, wusste, wie dieses Weihnachtsfest sich gestalten werde.

     Sogar den Knechten, die sich sonst gemeinhin nicht für des Bauern Weiberallüren interessierten, ging die zersetzende Stimmung tief.

     Jedem der Männer tat Johanna leid.

     Die Situation brachte Johanna an die Grenzen ihrer Belastbarkeit.

     Wären da nicht die beiden Kinder, sie hätte dem Leben ein Ende gesetzt. Allerdings, besonders Laura brauchte ihre Liebe. Johanna fürchtete sich vor nächster Woche, wenn die Feiertage stattfinden sollten und ihre Eltern hier eintrafen...

   ...Johanna liebte Lorenz tief im Herzen, obwohl er sie so oft erniedrigt hatte.

     Allerdings gab es nur eine Möglichkeit, wie sie seine Achtung neuerlich erringen konnte. Maria durfte ihm keinen Sohn gebären, oder noch besser, sie sollte bei der Geburt samt ihrem Kind krepieren. Dann würde Lorenz zu ihr ins Schlafzimmer zurückkehren und sie könnte ihm den ersehnten Stammhalter schenken.

     Sie hasste Maria und betete seit Tagen um ihr Ableben.

     Ihre Chancen standen seit dem heutigen Morgen nicht schlecht.

     Es war Sonntag Vormittag. Der Bauer und die Knechte befanden sich in der Kirche bei der Messe. Anschließend würden sie zum Frühschoppen gehen und nicht eher als zu Mittag heimkehren.

     Maria klagte Anna schon morgens, sie hätte die ganze Nacht Schmerzen gelitten und diese Schmerzen wiederholten sich kürzer und ärger.

     Anna berichtete diesen Umstand gleich Johanna, nachdem die Männer das Haus verlassen hatten. Dieser war klar, dass bei Maria die Wehen eingesetzt hatten. Das Kind würde also bald kommen. So verwies sie Maria wieder ins Bett und tat, als schicke sie Anna nach der Hebamme.

     In Wirklichkeit bekräftigte sie Anna zum Gegenteil.

     Anna machte sich am Herd zu schaffen. Sie sah nach dem Sonntagsbraten im Rohr und schälte Kartoffeln.

     Stumm überlegend saß Johanna ihr gegenüber. Laura schlief in ihrer Wiege und Isabell krabbelte über den Küchenboden.    

     Aus der Kammer drang Klagen.

     „Soll ich nicht doch die Hebamme holen?“, durchbrach Anna die Stille.

     „Nein. Sie hat kein Recht, meinem Mann einen Sohn zu schenken“, erwiderte Johanna unwirsch.

     „Aber das ist wie Mord“, meldete Anna Bedenken an.

     „Nein, es ist Schicksal. Wenn es nicht sein soll, kommen die Männer früher vom Gasthaus heim, dann können wir nicht mehr verhindern, dass Lorenz die Hebamme holt.

     Anna, dich trifft keine Schuld, das ist der letzte Kampf zwischen mir und dieser Hure. Wenn das Kind gesund da ist, dann habe ich eben verloren und werde mich scheiden lassen. Dann gehe ich zurück zu meinen Eltern. Aber wenn Gott es gut meint mit mir, dann nimmt er Maria zu sich und ich habe Chancen, meine Ehe zu retten.“

     „Aber Bäuerin, mit dieser unterlassenen Geburtshilfe verschwindet das Problem nicht aus der Welt. Der Bauer wird eine neue Maria finden und alles geht von vorne los. Diese Ehe ist nicht zu retten, ich habe Angst um Euch, er wird Euch irgendwann erschlagen in seiner Rage.“

     „Aber nein, Anna. Ich bin mir sicher, der Schmerz, sein Liebchen verloren zu haben, bringt ihn zurück zu mir.

     Alles wird gut. Und ein paar Ohrfeigen ab und zu werden mich nicht umbringen.“ Johanna lächelte gequält.

     Anna verstand nicht, wie sich Johanna an solche Illusionen klammern konnte. War es ihr nicht genug damit, dass er sie vor Wochen fast erschlagen hätte? Sie sah die Szene vor sich, als der Bauer wie von Sinnen auf seine Frau einschlug, nur weil sie sich weigerte, ihre Rivalin in der Küche zu dulden...

   ...Das nächste Frühjahr käme bestimmt und dann müsste sie wieder aufs Feld, während Maria im Haus Herrin spielte und vermutlich sogar werden würde, wenn Johanna zurück zu ihren Eltern ging.

     Um ihrer selbst willen war es am vernünftigsten, Johannas Rat zu befolgen und Maria ihren Wehen zu überlassen.

     Da durchzuckte sie ein grausiger Gedanke. Mehr zu sich als zu Johanna sagte sie laut: „Aber vielleicht töten wir dadurch ein unschuldiges Kind und Maria überlebt die Geburt trotzdem. Dann verschlechtert sich  unsere Situation zusehends.“

     Johanna sah tief in die Augen Annas.

     „Du hast recht. Wir müssen handeln“, Johanna erhob sich.

     „Was habt Ihr vor?“

     „Komm, beeile dich. Geh in den Stall und spanne ein Pferd vor den kleinen Wagen. Nun geh schon.“

     Anna hielt in der einen Hand eine Kartoffel, in der andern das Messer. Sie machte keine Anstalten, sich zu erheben.

     „Anna, ich flehe dich an, geh endlich.“

     „Warum brauchen wir den Wagen?“

     „Wir bringen sie weg, ein Stück in den Wald hinein. Ich ziehe ihr eine über, damit sie still ist.“

     „Aber wir können sie doch nicht so aussetzen, sie wird erfrieren“, gab Anna zu bedenken.

     „Genau.“

     Anna verstand jetzt, was sie nicht verstehen wollte. Stumm tat sie, wie ihr von der Bäuerin geheißen.

     Danach ging alles sehr schnell. Sie trug mit Johanna die bewusstlose und von ihr notdürftig bekleidete Maria an der spielenden Isabell vorbei. Sie legten sie in den Wagen und fuhren den schmalen Waldweg hoch. Beschwerlich zog das Pferd den Wagen, die Glätte und der kalte Schnee machten ihm zu schaffen.

     Das Gefährt blieb in einer harschen Schneewechte stecken. Verzweifelt stemmten sich die beiden Frauen von hinten gegen den Wagen. Die klirrende Kälte verschlug ihnen den Atem.

     Sie schafften es mit unsagbaren Kräften bis zum Wald. Dort legten sie Maria in den Schnee.

     „Ich glaube, sie bewegt sich“, flüsterte Anna. Ihre Wangen glühten vor Angst. Sie spürte die Frostigkeit nicht.

     „Okay, dann ziehe ich ihr noch eine über.“

     Anna drehte sich weg, als sie den dumpfen Schlag hörte. Ihr wurde schwarz vor Augen, als hätte sie selbst den Schlag bekommen.

     Stumm sah sie Johanna an sich vorübereilen. Als diese auf den Kutschbock stieg, knirschte der Schnee unter ihren Sohlen.

     Johanna hatte schon die Zügel in der Hand: „Komm, beeil dich, wir können die Kinder nicht länger allein lassen,“ rief sie der zögernden Anna zu. 

     Fast ergab es ein romantisches Bild, wie die beiden Frauen durch die weißbedeckte Landschaft Richtung Hof fuhren.

 


 


    

Nicole lag auf der Couch, den Blick zur Decke gerichtet. Stille im Raum. Sie senkte den Kopf, in Ruhe die spärliche Einrichtung wahrnehmend.

     Neben der Couch stand ein Ledersessel mit hoher Lehne, dahinter an der Wand ein Schreibtisch mit zwei Stühlen. Eine Musikanlage befand sich unter dem Fenster, welches zu einem Drittel eine bunte Jalousie verdeckte.

     Ansonsten verzierten die Wände Regale, auf denen es sich Ordner bequem machten. Ergänzend durchbrachen harmonisch- surrealistische Bilder das Weiß des Zimmers.

     Die Beleuchtungskörper an der Decke waren so angebracht, dass es vermutlich kein störendes Licht im Bereich des Patienten gab. Aber das konnte sie nicht beurteilen, denn es war Tag und kein künstliches Licht vonnöten.

     Nicole registrierte Doktor Boulafson, der an der weit geöffneten Tür mit einem Handy am Ohr vorbei ging.

     Ein angenehmer Schauer glitt durch ihren Körper. Sie fühlte sich wohl in dem Raum und wartete voller Neugierde, bis Superman mit seiner Hypnose beginnen würde.           

     Wahrscheinlich war es nur Zufall, vielleicht auch Schicksal, dass sie ihm gestern vor der Wäscherei über den Weg lief. Sie wollte darüber nicht mit sich selbst philosophieren, es zählte einzig und allein, dass es passierte. Denn sonst hätte sie sich nie zu dieser Therapie entschlossen und sicher nicht bei ihm angerufen...  

   ...Boulafson kam aus dem Vorzimmer herein, schaltete das Handy ab und legte es auf den Schreibtisch.

„Sie haben sicher durch Ihr Engagement bald einen großen Patientenkreis aufgebaut. Wollen Sie da wirklich mit mir gratis arbeiten?“

     „Ja, das möchte ich.“

     „Aber warum? Sie haben doch nichts von mir zu erwarten.“

     „Ich erwarte nichts von Ihnen. Es gibt zwei Gründe, warum ich unbedingt mit Ihnen arbeiten möchte. Erstens, weil ich bemerkt habe, dass Sie Hilfe brauchen.“ Boulafson stützte sein Kinn in die rechte Handfläche. Er tat, als würde er überlegen und dabei nach Worten suchen: „Nun ja, das ist wohl der kleinere Grund. Viele Leute brauchen Hilfe. Der zweite Grund ist viel stärker, freilich aber unerklärlicher. Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu helfen. Sie kommen mir bekannt vor, sehr bekannt...

     ...Ich werde dieser Sachen auf den Grund gehen, wenn es an der Zeit ist. Ich werde in Erfahrung bringen, welches unsichtbare Band zwischen uns besteht. Aber gegenwärtig ist in erster Linie wichtig, mit Ihnen zu arbeiten.      

     Genug der Worte. Also, Nicole, ich darf Sie doch so nennen, sind Sie bereit?“

     „Natürlich dürfen Sie mich so nennen, Doktor.“

     „Gut, sehr gut, und sagen Sie nicht Doktor zu mir. Wir sprechen uns leichter, wenn Sie mich Eric nennen, okay?“

     „Okay.“

     „Also Nicole, dann versuchen Sie, bequem zu liegen. Schließen Sie die Augen. Sie spüren ihren Körper, nehmen Ihre Atmung wahr...

  ...Superman beobachtete Nicole genau. Registrierte ihre Ruhe, ein Zucken ging durch ihren Körper, ein leichtes Aufbäumen folgte. Er fand es an der Zeit, seine Aufzeichnungen zu beginnen, schaltete sein Diktiergerät ein.

     Nicoles Körper erzitterte erneut.

     „Nicole, so beruhigen Sie sich doch. Es ist alles gut, alles in Ordnung. Ja, so ist es gut, ganz entspannt. Sagen Sie mir einfach, was Sie sehen.“

     Nicole bewegte die Lippen, bemüht, Worte zu formen, während Eric weiter beschwichtigend auf sie einsprach.

     „Was sehen Sie Nicole? Sprechen Sie!“

     „Ich, ich befinde mich auf einer Anhöhe... ein Wald im Hintergrund – pure Natur um mich herum... es ist schön hier, ich fühle mich von der Sonne gewärmt... mein Blick wendet sich einem großen, gelb gestrichenen Haus zu. Es ist einstöckig und langgezogen... rechts und links befinden sich Holzscheunen... ich denke, es ist eine Art Bauernhof oder Bioladen...

     Eine Frau läuft mir entgegen. Entsetzen steht in ihr Gesicht geschrieben... jetzt spricht sie kurz auf mich ein... ohhh, ich fühle mich plötzlich so angespannt... mein Denken setzt ein... ich bin verzweifelt... gehe los, Richtung Haus... ich beeile mich... ich laufe, laufe über Geröll und Gestein, ich rutsche dahin... jetzt habe ich das Haus erreicht... ich laufe daran vorbei... öffne die Holztür eines Schuppens... ich spüre erdigen Boden, dann und wann liegen Heubüschel darauf...  sehe leere Tierkojen... es ist schwül und stinkig hier... fast dunkel nach der gleißenden Sonne von draußen... meine Augen gewöhnen sich an das dumpfe Licht, welches durch kleine spinnenverwebte Fenster eindringt... alles wie Zeitlupe... da, oh nein, nein...“

     „Alles in Ordnung, Nicole, keine Angst, sie sind hier bei mir in der Praxis.“

     Wie durch Watte vernahm Nicole Erics Stimme. Die Düsternis löste sich auf. Nicole öffnete die Augen. Fand sich aufrecht sitzend in Supermans Armen wieder.

     Peinlich berührt, machte sie sich abrupt los.

     „Entschuldigung“, flüsterte sie. Sie fühlte sich benommen, Migräne machte ihr zu schaffen.

     „Wie fühlen Sie sich? Wollen Sie etwas zu trinken? Wollen Sie Ruhe oder reden?“

     „Nein, nein, ich brauche – nur Zeit, damit ich mich an alles erinnern kann.“

     Nicole griff sich an die Stirn, die Bilder tauchten erst rasterhaft, dann klarer vor ihr auf.

     „Ich habe das meiste aufgezeichnet, wir können es uns anhören, wenn Sie wollen, oder wenn es Ihnen lieber ist, erst morgen.“

     Eric zeigte auf das Diktiergerät.

     „Ja, morgen ist besser. Ich muss noch alles verarbeiten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

     „Nicole, eine Frage nur, was hat Sie zum Schluss so in Panik versetzt?“

     „Ich kann jetzt nicht darüber sprechen, muss nachdenken.“ Nicole fuhr sich hektisch durchs Haar.

     „Aber natürlich. Denken Sie in Ruhe darüber nach, und wenn Ihnen irgend etwas Angst macht, können sie mich jederzeit anrufen und mit mir darüber sprechen. Ein guter Tipp für unsere Sitzungen wäre sicher auch, wenn Sie beginnen, sich selbst Ihre persönlichen Aufzeichnungen darüber zu machen. So können wir uns ergänzen.“

     „Hm, das werde ich tun. Ich möchte jetzt bitte gehen.“

     „Fühlen Sie sich dazu imstande?“, fragte Eric besorgt.

     „Ja, es geht schon. Danke für alles. Ich freue mich auf morgen.“ Schnell verabschiedete sich Nicole, Erics besorgte Miene ignorierend.

     Sie stieg langsam die Treppe hinab, verließ das Haus, worin Doktor Boulafson seit kurzem seine Praxis betrieb.

     Wie ferngesteuert ging sie durch die Gassen bis zu der Bushaltestelle. Sie setzte sich auf eine Bank, um auf den Bus zu warten.

     Langsam schloss sie die Augen. Sie sah sich auf der Anhöhe, spürte die Hitze, nahm die Natur wahr. Sie lief und lief, bis zu dem gelben Haus, hinein in den Stall –  sah eine Frau mit weit aufgerissenen Augen an einem Strick von einem Balken baumeln. 


 

 


   ...Nicole wusste nicht, wie sie zu Superman gelangte, aber dass sie zu früh bei seiner Ordination ankam, war ihr klar. Sie wollte keine Minute länger warten, wollte nur zu ihm.

     Ungeduldig läutete sie an seiner Praxistür. Keine Reaktion. Erschöpft ließ sie sich neben der Tür nieder. Sie ahnte nicht, wie lange sie dort regungslos saß, bis die Tür geöffnet wurde und Superman einen Mann verabschiedete. Erschrocken nahm er Nicole wahr...

  ...Eric blickte zu  Nicole: „Ich möchte versuchen, durch ihr heutiges Leben und ihr letzt gelebtes eine Verbindung herzustellen, um zu sehen, wo liegt das eigentliche Potenzial an Lernprozess in diesem Leben und wobei kann ich Ihnen helfen, negative Energie in positive umzuwandeln.

     Das klingt alles sehr fremd für Sie und Sie brauchen es tatsächlich noch gar nicht im Gesamten verstehen.

     Lassen Sie sich fallen, gehen Sie mit mir Schritt für Schritt zu ihrer Selbststärkung. Vertrauen Sie mir, ich möchte Ihnen helfen, Ihnen ganz besonders.

     Ich kann Ihnen leider nicht sagen, was mich so sehr mit Ihrem Schicksal verbindet, dass ich den Drang verspüre, Sie zu unterstützen. Ich sehe es als meine Aufgabe, wenngleich ich nicht genau weiß, warum dieser Instinkt Ihnen gegenüber so ausgeprägt ist. Lassen wir das vorerst im Raum stehen, ich werde den Zusammenhang herausfinden.

     Ich bitte Sie Nicole, sagen Sie mir, was Sie heute beängstigt hat. Danach erzählen Sie mir von Ihrem Leben.“

     Nicole sah Eric dabei zu, wie er die Jalousie herunterließ, damit das Zimmer eine angenehme, abgedunkelte Atmosphäre bekam. Er setzte sich in Ihre Nähe, in seinem Schoss lag ein Notizblock, in seiner Hand hielt er eine Feder.

     Eric lehnte sich zurück, blickte Nicole erwartungsvoll an. Diese seufzte, rückte sich sitzend auf der Couch zurecht und begann ihre Lebensbeichte.

     Die Zeit existierte nicht mehr, nachdem Nicole zu erzählen begann. Anfangs stockend, kamen die Worte immer flüssiger über ihre Lippen.

     Während sie sprach, suchte sie in regelmäßigen Abständen den Blickkontakt zu Eric, so als schöpfte sie daraus ihre Kraft, weiter zu berichten. Dieser machte sich einige Notizen, seine Mimik blieb meist ernst. Doch sobald Nicole ins Stammeln kam, versuchte er, ihr seine Wärme durch seine Blicke zu vermitteln...

   ...   „Dann sollte ich jetzt besser gehen“,  meinte Nicole. Es war ihr bewusst, dass sie Superman sicher von seinen Vorbereitungen abhielt.

     „Sie können noch etwas bleiben. Was wollen Sie gerne tun?“

     „Wäre es möglich, eine kurze Hypnose mit mir zu machen?“

     „Klar, wenn Sie dazu heute noch Energie haben, gerne.“

     So begann Eric sein Hypnoseritual und Nicole fiel schnell in Trance.

     Als sie zu sprechen begann, schaltete Eric sein Diktiergerät ein.

     „Es ist stürmisch... ich schwebe über einem Fluss oder Bach... das Gewässer führt Hochwasser... Sträucher ragen aus den Fluten... dort, wo das Wasser etwas zurück gegangen ist, liegt schlammiger Dreck.

Da, jetzt sehe ich zwei Personen... es sind zwei Männer... sie wirken sehr altmodisch, etwas bäuerlich... der Jüngere der beiden kniet bei dem Älteren... er weint, ja er weint, scheint verzweifelt... der Ältere liegt regungslos da... sein Oberkörper ist klitschnass... ich befinde mich genau über den beiden... ich fühle mich traurig und erstaunt... was ist mit mir?... Ich steige auf, ich fliege immer weiter weg... fühle mich leicht, unendlich leicht.“

     Nicole bewegte sich im Liegen, ein glücklicher Zug lag auf ihren Lippen. Sie wirkte entspannt. Da sie nichts weiter berichtete, holte sie Eric aus der Trance.

     „Heute fühle ich mich das erste Mal wohl nach der Hypnose, obwohl die Situation so traurig war. Ich denke, der ältere Mann war tot, deshalb weinte der junge. Und trotzdem fühle ich mich so angenehm. Das Schweben war unvergleichlich schön“, schwärmte Nicole.

     Eric bemühte sich, seinen ernsten Ausdruck zu verbergen. Er wollte Nicole nicht beunruhigen, wie auch heute nicht näher darauf eingehen. Sie sollte ihn glücklich verlassen, obgleich sie sicher große Angst vor der nächsten Begegnung mit Holger hatte.

     So kam es, dass Eric bald danach allein in seiner Praxis saß und auf seinen angemeldeten Patienten wartete. Er hörte sich kontinuierlich Nicoles Worte auf dem Band an. Er fühlte sich extrem berührt. Warum nur ging ihm die Szene der beiden Männer so nah?

     Er hatte schon vieles in Hypnosesitzungen erlebt, doch noch nie empfand er diese Traurigkeit und Hilflosigkeit wie gerade jetzt. Es musste eine Verbindung zwischen ihm und Nicole geben, etwas ging über dieses Leben hinaus. 

 

     


 

 

 

 

 

 


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